Das Meer der Libellen by Yvonne Adhiambo Owuor

Das Meer der Libellen by Yvonne Adhiambo Owuor

Autor:Yvonne Adhiambo Owuor [Owuor, Yvonne Adhiambo]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783832170486
Herausgeber: DUMONT Buchverlag


49

Kurz vor Sonnenaufgang, als die Dschinn ihr Klagelied anstimmten, trat eine andere Ayaana aus der Kapitänskajüte und versuchte, die Welt zu begreifen. Wechselnde Stimmungen in der Morgenkühle; ein neues Gefühl überkam sie, der Geist der Veränderung, eine neue Art von Abschiedsschmerz. Sie atmete tief ein, beobachtete die Vögel, beugte sich über die Reling, um den dünnen Lichtstreifen des anbrechenden Tages zu betrachten.

Ni shi shei? Es war, als würde das Meer nach ihr greifen. Sie schlenderte über das Deck, roch schweren Tabakrauch, der durch die Luft waberte, dann hörte sie Delaksha in Nioregs Kabine lachen. Auf dem Weg zu ihrer Kabine kam sie an Lehrerin Ruolans Kajüte vorbei. Sie drückte die Klinke. Nichts. Verschlossen. Als sie sich umdrehte, stand Lai Jin hinter ihr. »Dein Schlüssel«, sagte er und hielt ihn ihr hin.

Sie nahm ihn.

Er wartete kurz, dann drehte er sich um. Die Käfigtür öffnete sich, und sie betrat den Raum, bemerkte, wie dicht gedrängt die chinesischen Bilder hingen. Sah das Porträt von Admiral Zheng He. Beugte sich über die Gebetsmatte ihrer Mutter. Alles im Raum war noch genauso wie vor dem Sturm.

Nur sie selbst nicht.

Als Ayaana gegen Abend in Lai Jins Kabine zurückkehrte, hatte sie ihre Henna-Utensilien dabei. Sie verbrachte den Rest des Tages in der Kabine, bemalte sich die Füße und rieb ihren Körper und ihre Haare mit den Ölen ihrer Insel ein.

Henna war die Domäne der Frauen.

Und doch.

Im goldenen Licht der Abendsonne kniete Ayaana vor dem nackten, biegsamen Körper eines Mannes und streichelte ihn. Lai Jin hatte den Kopf auf die Arme gelegt, während sie die verbrannte Haut liebkoste und ihm Geschichten von Pate erzählte, jene, die sie selbst erlebt hatte, und jene, die sie nur vom Hörensagen kannte. Sie bemalte nur die Teile seines Körpers, die seine Kleidung vor neugierigen Blicken schützen würde: seinen Rücken, seine Brust, seine Oberschenkel. »Meine Stadt liegt inmitten einer Geisterstadt, die einst der Nabel der Welt war«, sagte sie. »Viele kommen, um zu bleiben.« Sie erzählte von Muhidin. »Ich hab mir meinen Vater selbst ausgesucht. Sein Name ist Muhidin.« Sie sparte auch die Narben nicht aus. »Meine Mutter Munira ist die beste Sängerin der Insel, aber niemand außer ihr und mir weiß es.« Sie bedeckte Lai Jins Körper unterhalb des Halses mit Lotusblumen und Schnörkeln. Er hörte zu, spürte das Kitzeln des Pinsels und die kalte Flüssigkeit auf seiner vom Feuer geglätteten Haut. Sie schrieb ihm Pate mit der Stimme ein. Übertrug ihre Erinnerungen auf ihn. »Libellenflügel«, sagte sie. Als sie fertig war, beugte sie sich über ihn und küsste die narbenbedeckte Seite seines Gesichts. Sie strich ihm über den Kopf und erklärte ihm, er müsse mindestens eine Stunde so liegen bleiben, dann könne er das überschüssige Henna abwaschen. Sie sammelte ihre Sachen ein und verließ die Kabine.

Bei Sonnenaufgang öffnete Ayaana die Tür ihrer Kabine.

Zar. Es wurde schon hell, als sie das Klagelied der Dschinn hörte.

Sie ist jung, sagte Lai Jin zu sich. Tränen stiegen ihm in die Augen. Ihr Schicksal gehört ihr allein.



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